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Märchen-Almanach
Prinzessin = AmigaOS
Bälle werfen = Multitasking
Zwerge = DOS-Versionen
Bauerntochter = Windows
Maid = OS/2
NaTascha = Windows NT
3D-Gemälde = Raytracer
ewige Treue = bedingungslose
Kompatibilität
neue Kunststücke = neue Versionen
alter Oheim = UNIX
Prinz im Frack = Linux
neue Kleider = neue Versionen
Feuerwerke, Bälle = Multimedia
neues Zeitalter = Millenium

Ein
»Betrübssystem-Märchen«

Die verkannte Schönheit

8:20 Uhr: Vor dem Geschäft wartend (um Windows Me zu kaufen), sprach mich ein komischer Kerl an. Er war sehr mitteilungsbedürftig und erzählte mir eine merkwürdige Geschichte …

Es war einmal ein Betriebssystem, das war überglücklich, weil es sich für so gelungen hielt. Es war wunderschön gewachsen, konnte gut singen und war ausgesprochen farbenfroh. Außerdem konnte es mit vielen Bällen gleichzeitig jonglieren, ohne dass einer herunterfiel. Da es um sich herum nur schrumpelige, mit Ballast beladene Zwerge sah, die schon Mühe hatten, stabil gerade auszulaufen und dabei eine DOSe festzuhalten, nannte es sich die Prinzessin – und sie war sicher, bald Königin zu werden.

Doch die Zwerge neideten der Prinzessin ihre Fähigkeiten und Anlagen. Sie versuchten durch allerlei hübsche Verkleidungen, simple Tricks mit einem Ball und Musik vom Kassettenrekorder dem König «Kunde» vorzugaukeln, dass sie viel mehr drauf hatten als sie.

Die Edle dagegen schwebte in gänzlich anderen Sphären, träumte vom Königreich, ersann weitere Kunststücke, ohne sich um den praktischen Einsatz ihrer Fähigkeiten zu kümmern oder gar andere von deren Nutzen zu überzeugen. Wer ihr jedoch eine Weile zusah, war sofort verzaubert und konnte sich nicht mehr lösen. Einige fingen sogar an, Kunststücke für die Prinzessin zu erfinden, die sie meist schnell in Perfektion beherrschte.

Doch statt zur eigenen Freude Bälle zu werfen und Lieder zu trällern, boten die ungelenken Zwerge ihre Dienste als einfache Träger an. Damit war Geld zu verdienen, und König Kunde hatte reichlich Daten zu transportieren und zu bearbeiten. Der Transport war zwar beschwerlich, nicht gerade schnell oder sehr kommod, aber die Zwerge versprachen immer wieder aufs Neue, dass beim nächsten Transport alles besser wäre und alle guten Ratschläge beherzigt würden. Die bearbeiteten Daten hatten oft nicht die gewünschte Form, die König Kunde gefordert hatte. Wie schon jeder schrumpelige Zwerg den Eindruck erweckte, der x-te Flickversuch eines vormals einfachen Betriebssystems zu sein, waren auch ihre Arbeiten weit von Perfektion entfernt: Mancher Transportwagen hatte zu wenig Platz, wurde oft umgebaut und brach unter zu großer Belastung zusammen. Doch die Prinzessin machte keinerlei Anstalten, ihre Fähigkeiten dem König anzubieten. Sie vergaß, dass neben der Kür auch die Pflicht zum Programm gehört.

Die Bewunderer der Prinzessin hatten dennoch nur Spott für die Zwerge übrig – zumal die Prinzessin auch handwerklich den Zwergen weit überlegen war. Ihre 3D-Gemälde waren von märchenhafter Schönheit und ihre Werkzeuge von ausgesuchter Eleganz und Flexibilität. Selbst mehrere Zwerge auf einmal konnten es nicht mit ihr aufnehmen. Die Zwerge befürchteten, dass König Kunde trotz ihrer Dienste und Versprechen von der Schönheit der Prinzessin geblendet werden könnte. Sie gingen zur mächtigsten Zauberin und baten um Rat. Diese blickte lange aus dem Fenster, bis eine vorbeilaufende Maus sie auf die rettende Idee brachte. Doch vorher mussten die Zwerge ihr ewige Treue schwören. Für die große Verwandlung scharten sich alle Zwerge (bis auf einen) um die Zauberin, sie warf ein Gewand über alle und sprach »Es gate doch!«.

Nach Donnerhall und Blitzgewitter hatten sich Zwerge und Zauberin in eine junge Bauerntochter verwandelt, die entschlossen war, es mit der Prinzessin aufzunehmen, um die Gunst von König Kunde zu gewinnen. Zwar bewegte sie sich zu Beginn noch ungelenk wie in Gummistiefeln, doch halfen ihr die Bauernschläue und die Blendkraft der Zauberin. Sie wusste von blühenden Datenlandschaften zu erzählen und verspottete die Prinzessin als Spielkind. Da die Bauerntochter stets von ihren Taten, Verdiensten und Absichten sprach, geriet die Prinzessin zusehends ins Abseits. Sie grämte sich sehr, dass niemand das Blendwerk der Bauerntochter durchschaute. Die Prinzessin verlor sogar die Lust, neue Kunststücke einzuüben sowie vor Publikum vorzuführen und gewann daher auch keine neuen Freunde. Allein auf weiter Datenflur wusste die Bauerntochter König Kunde nach und nach von ihren Fähigkeiten zu überzeugen und an Beliebtheit zu gewinnen. Die Prinzessin verschwand aus der Erinnerung, und König Kunde glaubte, dass die Bauerntochter ihm beste Dienste leistete, auch wenn es immer wieder Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten bei der Ausführung einzelner Aufträge gab. Das war allzu menschlich, und es gab ja auch kaum Alternativen.

Plötzlich tauchte aber eine Maid aus altem Geschlecht auf, die vielversprechende Fähigkeiten mitbrachte und auf ersten Blick hübscher aussah als die Bauerntochter. Sie konnte nahezu perfekt mit mehreren Bällen jonglieren und war die Erfindung des einen Zwerges, der nicht in den Mantel der Zauberin geschlüpft war, sondern sich getrennt hatte. Für ihn stand fest: »Ich Bin Meister«.

König Kunde war hin- und hergerissen und die Bauerntochter arg irritiert. Den Balltrick hatte sie schon oft geübt, aber er wollte nicht gelingen. Die Zwerge unter dem Gewand konnten sich nie recht einigen, wer wann was tun sollte, und so fielen die Bälle immer wieder herunter. Erklären konnten sie die fehlende Fähigkeit niemanden, denn die Zauberin hatte gewarnt, dass sobald jemand unters Gewand gucken würde, der Zauber auffliegen und die Bauerntochter sterben würde. König Kunde fühlte sich bald mehr und mehr zur Maid hingezogen.

In ihrer Not erfand die Bauerntochter eine große Schwester, die Noch Toller als die Maid sein sollte, dafür aber etwas schwieriger im Umgang sei. König Kunde fühlte sich unwohl, waren doch nicht alle Ankündigungen der Bauerntochter bisher in Erfüllung gegangen. Andererseits hatte ihm die Bauerntochter bisher treue Dienste geleistet. So wartete er ab und nahm die Dienste beider an.

Die Bauerntochter ging in den uralten Wäldern umher, um nach dem alten Oheim zu suchen, von dem die Prinzessin selten erzählt und manches gelernt haben sollte. Nach langer Suche fand sie ihn schließlich, ließ sich viel erklären und etliche alte, mächtige Werkzeuge zeigen. Obwohl alt und klapprig, konnte der Oheim immer noch mit vielen Bällen jonglieren. Und ihm war es einerlei, aus seinem Nähkästchen zu plaudern, schließlich hatte er sein Auskommen und fürchtete keine Konkurrenz. Auf dem Heimweg traf die Bauerntochter den Fuchs und verwandelte ihn in die Schwester »NaTascha« mit allen Fähigkeiten, die sie beim Oheim gesehen hatte. Die Zwerge waren stark verärgert über die Schwester, doch die Zauberin erklärte ihnen, dass NaTascha nur für Spezialaufgaben und knifflige Aufträge geeignet sei. Für alles andere könnte nur die Bauerntochter ihre Dienste anbieten.

Es dauerte nicht lange, da konnten die beiden Bauerntöchter als Paar die Maid ausstechen und König Kunde von ihren Fähigkeiten überzeugen, obwohl die jüngere Bauerntochter kaum etwas dazugelernt hatte. Stattdessen ließen sie sich neue Kleider machen und lernten ein paar neue Kunststücke, um König Kunde zu beeindrucken. Schließlich musste die Maid einsehen, dass sie keine Chance hatte, und zog wie die Prinzessin verbittert in eine menschenleere Gegend.

Der Oheim, der gelegentlich Besuch von jungen Elfen und Bewunderern der Maid hatte, war über die Entwicklung sehr verstimmt. Schließlich hatte er seine Kenntnisse nicht weitergegeben, damit andere darunter zu leiden hatten. Dennoch fühlte er sich selbst zu schwach, selbst zum König zu ziehen. So zeigte er den geschickten Elfen, wie man aus seinen Werkzeugen, etwas Kode und den richtigen Kenntnissen einen Prinzen im Frack und mit langer Nase machte. Anfänglich wirkte der Prinz fürchterlich nackt, aber die Elfen bastelten unablässig an ihm herum. So wurde er schöner, geschickter und erwarb ständig neue Fähigkeiten.

Eines Tages zog der Prinz in die Welt hinaus und zeigte König Kunde seine Fähigkeiten. Sie reichten an der Zahl bei weitem nicht an das heran, was die beiden Bauerntöchter beherrschten. Was er aber konnte, das war ausgesprochen geschickt. König Kunde wusste nicht so recht, was er mit dem Prinzen machen sollte, zumal dieser keinen Geschäftssinn erkennen ließ, zu Anfang etwas schroff im Umgang war und grundlegende Dienste nicht anbieten konnte. Doch dann sagte er dem König etwas, was ihn tief beeindruckte: »Meine Dienste kosten nichts, und werden nie etwas kosten, selbst wenn ich alle Fähigkeiten der Bauerntöchter habe«. Das nützte König Kunde zunächst nur wenig, aber es hatte seine Aufmerksamkeit geweckt und er beobachtete genau, wie der Prinz seine Fähigkeiten erweiterte.

Auch die Bauerntöchter hatten den Spruch gehört, sahen im Prinzen einen neuen Widersacher und waren etwas ratlos. Zu allem Verdruss mussten sie feststellen, dass die Elfen ihren Spaß daran hatten, keinerlei Geld für die Betreuung des Prinzen und dessen Ausbildung anzunehmen. So entschloss sich NaTascha, mit dem verdienten Geld neue Werkzeuge zu kaufen und ihre Fähigkeiten zu erweitern. Die jüngere Bauerntochter selbst hatte große Mühe, den Zwergen im Gewand neue Fähigkeiten beizubringen und ersann vor allem neue Kleidungsstücke für Gelegenheiten wie Feuerwerke, Bälle und Schauspiele.

Der Prinz dagegen lernte beständig – die Elfen achteten vor allem darauf, dass er auch all das einübte, was die Bauerntöchter schon konnten. König Kunde war angetan und nahm immer öfter die kostenlosen Dienste des Prinzen an. Doch NaTascha gab sich nicht geschlagen und übte weiter, um auch zukünftig im Vorteil zu sein.

Als das neue Zeitalter anbrach, konnte sie wiederum mit Tricks aufwarten, die der Prinz nicht draufhatte. Doch König Kunde konnte sich eins ums andere Mal nicht entscheiden und sitzt noch heute verwirrt auf seinem Thron.

Die Prinzessin ist nur noch ein Schatten ihrer selbst und wird von wenigen Vertrauten gepflegt, die immer noch an ihre Rückkehr glauben. Der Oheim lebt wohl nicht mehr, seine Werkzeuge hat eine Elfe mit Zwergen-Verwandtschaft in Verwahrung genommen, um dem Prinzen noch mehr Unterstützung zu geben. Die Maid hat erkannt, dass sie selbst nicht mehr zurückkehren kann und stellt ihr Wissen den Elfen zur Verfügung, um dem Prinzen zu helfen. NaTascha hat sich zur neuen Prinzessin erklärt und Anspruch auf den Thron angemeldet. Doch der König kann sich immer noch nicht entscheiden.


Das Märchen wurde mit freundlicher Genehmigung vom PC-Magazin zur Verfügung gestellt.
Das Märchen wurde ursprünglich in der Ausgabe 10/2000 auf den Seiten 88 und 89 veröffentlicht und von David Göhler verfasst.

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